Nur, weil der 6. Juni mein Geburtstag war, hieß dies leider nicht, dass ich diesen Tag frei bekam. Das störte mich aber keineswegs—erst recht nicht, wenn ich auf diesen und die folgenden Tage zurückblicke.
Ich auf der Zipline im Camp
Der Morgen begann wie immer am Flagpole zum Hymne singen. Es ist dabei Tradition, dass Geburtstagskinder die kanadische Flagge hissen dürfen. An diesem Morgen waren ich und zwei Mädchen die Glückskinder. Gemeinsam zogen wir die Flagge hoch, während die restlichen 450 Kinder dazu die kanadische Nationalhymne sangen. Ein bewegender Moment.
Auf dem Weg zum Speisesaal wurde ich von einigen Counsellorn gefragt, ob ich denn tatsächlich Geburtstag hätte, oder ob ich nur die Flagge hissen wollte. Ich musste ziemliche Überzeugungsarbeit leisten, bis sie mir glaubten.
In solch einem Fall helfen kleine Tricks. Ganz gern behaupte ich beispielsweise, dass ich sie von wo auch immer sie gerade stehen, nicht abseilen kann und sie ein paar Schritte in Richtung Mitte gehen müssen. Ebenso gut funktioniert es, sich die Farbe eines Hauses am anderen Ufer des Sees, den man von da oben wunderbar überblicken kann, nennen zu lassen. Das Abseilen macht besonders Spaß, denn die Kinder ein Stück fallen zu lassen, ist unter uns Belayern ein belibter Sport geworden.
Ein Mädchen dieser Schulgruppe war autistisch. Auch sie sollte und wollte aber am Programm teilnehmen, soweit es ihre Fähigkeiten zulassen würden. Selbst eine Leiter hinauf zu klettern, davor hatte sie unheimlich Angst. Ihre Betreuerin ermutigte sie eine Sprosse auf der Leiter zum Kletterelement hinaufzusteigen. Ich bekam Gänsehaut bei dem Anblick und dem Gedanken, welch große Überwindung das für das Mädchen gewesen sein muss.
Zum Schluss wollte die Betreuerin gern noch ein Foto von ihr und dem Mädchen vor dem Kletterpark. Ich rief spontan Lora und Glen, die mit mir an diesem Tag im Kletterpark arbeiteten, zusammen, um sich mit ins Bild zu stellen. Die Betreuerin dankte uns allen sehr dafür und meinte, dass sich die Mutter des Mädchens unheimlich darüber freuen würde.
Ein anderes tolles Geburtstagsgeschenk war, dass ich später mit zwei anderen für die Zipline, die einseilige Seilbrücke, eingeteilt wurde. Wir drei hatten alle schon da gearbeitet, aber keiner von uns fühlte sich genug geschult für die Arbeit auf der Plattform, von der die Kinder in die Tiefe springen würden. Ich bot mich an, diesen Part zu übernehmen. Ich kletterte nach oben und ergründete die Funktionsweise der Sicherungsmechanismen und ließ die Kinder hoch kommen.
Über den Nachmittag verteilt, wurde ich immer noch hin und wieder gefragt, ob es wirklich mein Geburtstag sei. Selbst mein Boss gratulierte erst später.
Für die Nacht, von halb zehn bis halb eins am Morgen hatte ich eine sogenannte OD-Schicht. Dabei bekam ich zwei Camperhütten zugeteilt, für die ich zu jeder halben Stunde sicherstellen sollte, dass alles in Ordnung war. Ich war aber nicht der einzige, denn alle Hütten der 450 Kinder bekamen ODs zugeteilt. Die übrigen Counsellor hatten an diesem Abend frei und fuhren nach Orillia zum Feiern.
Halb zehn sollten die Kinder in ihren Hütten sein. Eine Stunde später sollte das Licht gelöscht werden und eigentlich alle schlafen. Tatsächlich aber fühlten sich einige zu dieser Zeit noch nicht müde genug, dieser Staffelung zu folgen.
Währenddessen hatte sich die andere Hütte immer noch nicht beruhigt. Die Rabauken waren sogar so laut, dass ich sie in der anderen Hütte hören konnte. Ich ging noch einmal rüber, schmiss die Tür auf und brüllte: "What is going on here?". Mucksmäuschenstill. Ich erklärte ihnen noch einmal, dass ich zur nächsten halben Stunde wieder kommen würde und dann besser alle im Bett sein sollten.
Ich war nicht böse auf sie und ich wollte auch nicht superauthoritär wirken, aber manchmal wirkt ein bisschen Brüllen Wunder.
Als ich später wieder kam, lagen alle endlich in ihren Betten. Natürlich hatten sie noch ihre Taschenlampen an und redeten. Das störte aber nicht. Das einzige, worum ich sie bat, war allerdings sämtliche Geräusche, die durch das Passieren von Luft durch Röhren und Schlauchsysteme produziert werden können, zu vermeiden.
Ich beschloss ein Spiel mit ihnen zu spielen, das sie etwas müde machen sollte und das Glen vorher mit seinen Kindern spielte. Ich hatte es vor einigen Jahren in einem Film gesehen, in dem sich eine Familie am Tisch gegenseitig von ihren Highs und Lows des Tages erzählte. Ich bat also jedes der Kinder das gleiche zu tun. Sie erzählten dabei ganz aufrichtig von ihren positiven und negativen Erlebnissen des Tages.
Wie jeden Morgen nach dem Frühstück gab es auch am Morgen nach meinem Geburtstag ein paar Info-Durchsagen für alle von Pete. Nachdem er fertig war, sagte er, dass noch jemand anderes etwas sagen wollte. Dann hörten wir die Stimme eines Jungen. Ich erkannte ihn nicht, aber ich erfuhr schon bald, wer er war. Er sagte, dass am Vortag jemand Geburtstag gehabt hätte, dies aber kaum jemand glauben wollte. Der Name dieser Person sei Marcel und er wäre 29 Jahre alt geworden. Ich war ganz verblüfft und stand auf, als er alle Anwesenden im Saal erneut zum Geburtstagsständchen singen aufforderte. So sang ein Chor von 500 Kindern nur für mich. Ein ergreifender Moment.
Vom Tisch hinter mir tippte mir ein anderer Junge auf die Schulter und schenkte mir eine 1-Dollar-Münze aus dem Jahr 2012—als Geburtstagsgeschenk und Erinnerung an Kanada. Nach dem Mittagessen gab mir ein Junge sogar sein Nachtisch und noch am Freitag, zwei Tage nach meinem Geburtstag, bekam ich von einer Gruppe Mädchen eine Tüte zusammengesammelter Süßigkeiten. Was kann das noch überbieten?